In Sizilien erlebe ich jeden Tag seltsame Dinge.
An die meisten Dinge habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Zum Beispiel ist es absolut normal bei 25°C eine Winterjacke zu tragen in den Monaten Oktober bis Mai. In den übrigen Monaten des Jahres sieht man die Winterjacken eher selten, es sei denn der Himmel ist grau, dann kann man unabhängig von Temperatur oder Jahreszeit eine warme Jacke tragen. Eine andere Kuriosität ist die Tatsache, dass zu Fuß gehen als unnötige Anstrengung angesehen wird. Einen Spaziergang machen Hundebesitzer oder wer abnehmen möchte. Flanieren dürfen alle, solange man sich in den Abendstunden an einem belebten Ort aufhält und nicht zu schnell geht. Wenn ich zu einem Geschäft oder einer Bar gehe, welche 2 km entfernt liegt, obwohl ich auch mit dem Roller fahren könnte … dann ernte ich meist eher Unverständnis.
Die Zeit in Sizilien
Woran ich mich nach 2 Jahren in Sizilien noch nicht gewöhnt habe und was mich wohl noch eine Weile beschäftigen wird ist die Zeit in Sizilien. Die Zeit vergeht hier einfach anders und der Sizilianer definiert sie auch ganz anders. Für mich als Deutsche ist dies eventuell schwieriger zu verstehen, als für andere Nationalitäten. Ich bin mit dem Verständnis aufgewachsen, dass es nur eine Zeit gibt. Sie verläuft linear und ist sehr wertvoll. Das nicht alle so denken ist mir schon klar, allerdings sind diese Werte durchaus tief in der Gesellschaft verankert.
Ora oder ora ora?
Mein Lieblingsbeispiel um das sizilianische Zeitverständnis zu erklären ist das Wort „ora“. Auf Deutsch übersetzt bedeutet dies wörtlich „jetzt“, ein Wort, welches in der Regel wenig zur Diskussion offen lässt. Nicht so in Sizilien. Wenn ich Salvatore frage, ob er dies und das „ora“ erledigen kann, dann folgt ganz oft die Gegenfrage „ora ora?“ also so viel wie „jetzt jetzt?“. Wenn es wirklich dringend ist, sage ich „sì“, andernfalls kann ich hier nochmal zurückrudern und ein übertriebenes „nooooo“ antworten. Also strenggenommen bedeutet „ora ora“ für mein deutsches Verständnis „jetzt“. Das Wort „ora“ ist etwas flexibler zu betrachten. Es bedeutet viel mehr „bald“ oder „nach dem Essen“ und kann somit in einer Zeitspanne von 5 Stunden passieren.
Tageszeiten und Begrüßungen
Auch bei der Angabe der Tageszeit lohnt es sich nachzufragen. Wer morgens verabredet ist, kann sich z.B. auch erst um 12 Uhr mittags treffen. Der Morgen dauert in Sizilien nämlich bis zum Mittagessen. Gleiches gilt für den Nachmittag, welcher bis zum Abendessen dauert. So gilt 19 Uhr noch als Nachmittag. Was hierbei erschwerend hinzukommt ist die Begrüßung. Ab dem Mittagessen grüßt man sich nicht mehr mit „Guten Tag“ sondern mit „Guten Abend“ auch wenn noch Nachmittag ist. „Guten Nachmittag“ ist nicht falsch aber man hört es eher selten.
Ist Zeit Geld?
Ebenfalls interessant ist die Zeit in Sizilien im Zusammenhang mit erworbenen Dienstleistungen. Dienstleistungen zählen weniger als Ware, sondern mehr als Gefälligkeit. Wenn ich zum Beispiel meine Schuhe zum Schuster oder meinen Roller in die Werkstatt bringe, dann zahle ich fast ausschließlich die Ersatzteile (leicht aufgerundet). Den Sizilianer interessiert es herzlich wenig, ob er 1 oder 5 Stunden braucht um meinen Auftrag zu erfüllen. Der Preis ist immer gleich. Oft genug zahle ich auch garnicht, weil die verwendeten Teile eh nur so rumlagen.
Die Zeit in Sizilien ist nicht linear.
Die Zeit macht Pause, wenn die Sizilianer essen oder wenn der Enkel aus Norditalien anruft. Die Zeit läuft rückwärts wenn man die Nonni im verlassenen Bergdorf besucht. Die Zeit macht Purzelbäume wenn man mit Amore beim Aperitivo den Sonnenuntergang anschaut. Das heißt aber nicht, dass die Zeit in Sizilien weniger wertvoll ist. Im Gegenteil! Die Zeit wird optimal genutzt. Die Prioritäten sind nur anders. Ganz oben sind die Familie und das Essen. Ich hoffe, dass ich noch viel von den Sizilianern lernen kann.